Sind essbare Pflanzen im Trend? Natürlich sind wir als Jungpflanzenproduzenten in diesem Bereich versucht, diese Frage gleich zu Beginn mit einem lauten JA zu beantworten. Dennoch lohnt es sich, die Frage etwas detaillierter und genauer zu untersuchen. Nur so ist es möglich die Kräfte besser zu erkennen und auch zu nutzen, die unsere kleine Pflanzen-Teilbranche bewegen.
Bequemlichkeit: Früchte und Gemüse kauft man im Supermarkt
Zunächst müssen wir feststellen, dass Obst-, Beeren- und Gemüsepflanzen im und aus dem eigenen Garten in den seltensten Fällen einer ökonomischen Notwendigkeit, oder auch nur Sinnhaftigkeit entsprechen. Der Einkauf von essbereiten Früchten und von Gemüse im Supermarkt ist in fast allen Fällen nicht nur bequemer, sondern auch billiger. Diese Erkenntnis mag sicher in den 60er und 70er Jahren dazu geführt haben, dass Obst- und Beerenpflanzen eher Marktanteile verloren haben und dass vor allem die Marktanteile der Ziergehölze und Zierpflanzen stark gewachsen sind. Nachdem man genug Brot und Butter auf dem Brot hatte, wollten die schönen Seiten des Lebens erkundet werden. Seit den 90er Jahren und verstärkt seit 2010 ist aber auch der Gegentrend zu beobachten: Edibles, Obst-, Beeren- und Gemüsepflanzen gewinnen kontinuierlich an Marktanteilen und auch an Bedeutung. Das zeigt sich ganz deutlich auch bei Samensortimenten, Gemüsesamen sind wieder weit wichtiger als Blumensamen – jedenfalls hören wir das von Geschäftspartnern aus England. Ich möchte sogar noch weitergehen: In meiner aktiven beruflichen Karriere von gut 30 Jahren habe ich eigentlich nie erlebt, dass unsere Pflanzen-Kategorie irgendwie ernsthaft unter Druck waren (immer unter den Voraussetzungen, dass man das Produkt den aktuellen Bedürfnissen anpasst). Dies ganz im Gegensatz zu Pflanzengruppen wie z.B. Rosen, wo man alle 10 Jahre gigantisch Schwankungen erlebt, die gut und gerne 30-40% ausmachen können.
Bild: Winterheckenzwiebel - eine mehrjährige und ausdauernde Gemüseart für den eigenen Garten
Kurz gesagt: Obst, Beeren und Gemüse aus dem eigenen Garten oder vom Balkon sind „in“, verstärkt seit ca. 2010 – und dies obwohl die ökonomischen Gegebenheiten sich grundsätzlich nicht geändert haben. Finanziell lohnt sich das Selber-Produzieren gegenüber dem Supermarkt Einkauf noch immer nicht. Was aber genau ist der physische und ideelle Gewinn, der die ökonomischen Gegebenheiten überspielt?
Selbstversorgung: ein alt-neuer Trend
Die Selbstversorgung der alten Subsistenzwirtschaft, wo jede Familie auf einem mehr oder weniger kleinen Flecken Land ihre Hauptnahrungsmittel selber produziert, scheint sich irgendwie in die moderne Zeit zu übertragen. Selbstversorgung ist im Trend, entsprechende YouTube Kanäle und Blogs boomen. Dabei interessiert einerseits die Story (DIE machen es wirklich!), aber auch die Vorbildfunktion (das ist wirklich möglich!). Untrennbar mit diesem Trend verbunden sind sicher auch Begriffe und „Gefühle“ wie Direktheit (weg von x-mal vermittelten Produkten und Dienstleistungen), Einfachheit und Nachhaltigkeit. Im englischen fasst der Begriff ‘grow yourself’ den Trend gut in zwei Worten zusammen: Bau selber an, was du brauchst – und darin ist dann die ganze weitere Verarbeitung, Lagerung und vor allem auch das Kochen miteinbegriffen (siehe unten). Letztlich ist „grow yourself“ die Übersetzung von „do it yourself“ ins Gärtnerische!
Bild: ertragsstarke, einmaltragende Erdbeere Parfum® Schweizer Herz®
Dennoch, ich möchte es nochmals wiederholen, erstaunt der Trend doch ein bisschen, weil er die ökonomischen Gesetze so gar nicht erfüllt: Genau das ist nämlich bei DIY ganz anders; da ist das Selberbauen, zusammenbauen und basteln fast in jedem Falle billiger, da ich mit eigener Arbeit Facharbeit ersetze. Warum dieser Kostenvorteil ist im Bereich von Obst, Beeren und Gemüse sicher nicht zutrifft, wäre selber ein spannendes Thema, über das sich das Nachdenken lohnen würde. Preisdruck und manchmal perverse Marktmechanismen haben aus wertvollen Lebensmitteln bloße „Commodities“ und Massenprodukte gemacht. Kein Wunder, dass sich da eine Gegenbewegung entwickelt, die das eigene Leben (und damit auch die eigenen Lebensmittel) wieder selber unmittelbar kontrollieren und lebenswert machen möchte.
Antizyklisches Verhalten der Nachfrage nach Edibles
Der Mensch möchte natürlich zuerst und vordringlich seine wichtigsten Bedürfnisse befriedigt haben, und genug zu essen gehört sicher dazu. So nimmt die Nachfrage nach Edibles in Krisenzeiten sicher zu, das galt für die Ölkrise 1973, aber auch für alle nachfolgenden kleineren oder größeren Wirtschaftskrisen: Die Nachfrage nach Edibles (Obst-, Beeren- und Gemüsepflanzen) steigt, wenn der Nachschub nicht mehr zu 150% gesichert scheint, oder auch wenn die eigenen finanziellen Möglichkeiten und wirtschaftlichen Aussichten eingetrübt sind. Gerade aktuell haben wir das auch wieder in der Corona-Krise erlebt.
Jetzt könnte man annehmen, dass in wirtschaftlichen Boom Zeiten (denken wir nur an die vergangenen ca. 8 Jahre) die Nachfrage eher abnehmen würde – was aber ganz klar nicht der Fall war…
Warum also bleiben essbare Pflanzen auch in wirtschaftlichen Boom-Zeiten en vogue?
Megatrends: Unmittelbarkeit, Kochen, Gesundheit, Individualismus
Ganz lässt sich der Widerspruch nicht auflösen und die Frage ist auch nicht endgültig zu beantworten. Dennoch scheint sich aber in einer bestimmten Luxusstufe (Hochkonjunktur, relativ hohe und historisch nie das gewesene soziale Sicherheit) eine Gegenbewegung zu konkretisieren, die zurück zu den Ursprüngen will. Die den direkten Kontakt zu den Lebensmitteln sucht, die der Entfremdung und Vermitteltheit der Lebensumstände (für alles gibt es Dienstleister, Anbieter, Dienstleister von Dienstleistern) eine neue Direktheit entgegensetzen will: Ich koche selber und gewinne Lebensqualität darauf, ich kümmere mich selber um meine Gesundheit, ich überlasse das nicht den medizinischen Fakultäten. Gesundheit und Gärtnern mit „Edibles“ treffen sich natürlich dann auch wieder aufs schönste: Ich esse, was ich selber, selbstverantwortet produziert und geerntet habe. Ich habe alles, mein ganzes Schicksal unter meiner Kontrolle. In dieses Set von Megatrends passt sicher auch der Individualismus hinein, der ja nicht nur positiv ist, sondern gerne auch in Egoismus umschlägt: Ich kümmere mich zunächst einmal um mich, und dann lange um nichts mehr. Freiwilligenarbeit, Vereine, politische Parteien können alle ein Lied davon singen.
Lifestyle Trend: Die Entmaterialisierung der Ernte zum Erlebnis
Aber zurück zu unserem Thema: Obst-, Beeren- und Gemüsepflanzen (auch Kräuter) profitieren nachhaltig und tendenziell immer stärker von dieser Ausrichtung nach Innen, auf das Individuum, auf unser eigenes Wohlergehen. Und dabei geht es schon lange nicht mehr um Heller und Pfennig – sondern eher um das gute Gefühl, das Beste für sich (und die eigene Familie) zu tun und getan zu haben). Das quantitative Denken (der alten echten Selbstversorgung: Ertrag, mehr Ertrag, Maximierung!) wird von einem neuen qualitativen Ziel abgelöst: Man will nicht mehr vor allem Kilogramm ernten, das Ernten selber wird wichtig. Man erntet nicht nur Früchte, sondern eigentlich ein unmittelbares und echtes Erlebnis. Es ist ein ziemliches Glück, dass der gleichzeitige Kochtrend das fast schon entmaterialisierte Erlebnis dann doch wieder physisch erlebbar macht!
Bild: frisch gepflückt schmeckt es am Besten
Fazit: Selbstversorgung und Lebensqualität, Quantität und Qualität
Fassen wir zusammen: „Edibles“, also Obst- Beeren-, Gemüse- und Kräuterpflanzen werden seit Jahrzehnten von der Zusammenwirkung zweier auf den ersten Blick gegenläufiger Trends getragen:
- Angstanbau in wirtschaftlich kritischen Zeiten plus alt-neue Selbstversorgung (die sich durchaus auch autonom und unabhängig von wirtschaftlichem Umfeld entwickeln will).
- Neue Unmittelbarkeit und der Wunsch nach einer anderen, nicht nur quantitativen Lebens- und Erlebnisqualität.
Als Züchter und Pflanzenproduzenten sollte uns dieser Doppeltrend immer sehr bewusst sein. Er trägt unsere kleine Pflanzenbranche, und ganz besonders die „essbaren“ Pflanzen seit einigen Jahrzehnten zuverlässig durch viele wirtschaftlich sehr abwechslungsreiche Zeiten. Er ist aber auch nicht ganz einfach in der Produktgestaltung und Kundenansprache umzusetzen. Obwohl der „Edibles“-Käufer in vielen Fällen sozusagen hybrid ist, also durchaus auf beide Trends anspricht, ist es auf den ersten Blick sehr schwer, beide auf einen Nenner zu bringen: Das Versprechen auf die vielen Kilogramm Ernte und auf Autarkie – und die Aussicht auf ein wunderschönes Erlebnis, den Genuss der selber gezogenen Frucht. An dieser Doppelstrategie führt aber nichts vorbei; die Fruchtpflanze als ein bloßes Livestyle Development wird ebenso scheitern wie der banale Versuch, eine Fruchtproduktionsmaschine zu verkaufen.