Der Blick in die Zukunft kann nur wenig mehr sein als ein Blick in Glaskugel. Was hilft, ist der Blick zurück: Der Rhabarber hat eine großartige Vergangenheit und Geschichte. Da ist doch einiges an Zukunft zu erwarten… Rhabarber ist nicht gleich Rhabarber – ein Blick auf unsere Sortenkandidaten in der Lubera Züchtung zeigt die Diversität, zu der der schlichte Rhabarber fähig ist.
Die Geschichte der Rhabarberwurzel
Die Araber brachten die chinesische Wurzel, die Wurzel der Barbaren (Rheum barbarum, wie der lateinische Name wörtlich übersetzt heißt) nach Europa, aber nicht der sauren Stängel wegen, sondern als Medizin. Arzneimäßig wirksam (oder auch nicht wirksam) waren dabei die Wurzeln bzw. Tinkturen und Pulver aus Rhabarberwurzeln – und nicht die Blätter und Triebe. Sie sollten gegen Verstopfung und wahlweise auch bei Durchfall helfen… In der frühen Neuheit - wohl zusammen mit der Wiederentdeckung der arabischen Ursprünge der modernen Wissenschaft - entspann sich ein globaler Wettkampf um die medizinisch so wertvollen chinesischen Wurzeln. Der russische Zar beanspruchte das Handelsmonopol für über Sibirien importiere Rhabarber, die englische Ostindien-Gesellschaft versuchte das Monopol zu brechen. Die Fortschritte der Medizin zeigten dann aber doch irgendwann Wirkung: Die Rhabarber-Droge ist nur schwach wirksam und geriet zum Ende des 18. Jahrhunderts ein bisschen in Vergessenheit – bis um 1800 Gemüsegärtner begannen, die großen Städte London, Hamburg und Paris mit Rhabarberstängeln zu beliefern. Natürlich wäre diese Renaissance des Medizinal-Rhabarbers als Gemüse ohne die größere Verfügbarkeit von Zucker nie aufgekommen. Aber immerhin: Der Rhabarber, so wie wir ihn kennen, war geboren: ein Gemüse, dass mit Säure und Zucker assoziiert wird und eher so genossen und wahrgenommen wird wie eine Frucht.
Die Hochzeit des Rhabarbers
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum 2. Weltkrieg – noch vor der weltweiten Verfügbarkeit und Verschiebbarkeit von Gemüsen und Früchten – erlebte die Rhabarberkultur ihren Höhepunkt: Dieses Gemüse, dass wie gesagt eher wie eine Frucht benutzt wird (denn wer assoziiert Säure und Zucker mit einem Gemüse?), konnte als Wurzel im Winter in speziellen Hallen angetrieben und so auch während des späten Winters und frühen Frühjahrs in die Ballungszentren verkauft werden. Und da war der Rhabarber eine mehr als nur willkommene Abwechslung, eine wichtige Vitamin C Quelle und ein erstes Versprechen auf die Früchte des Frühlings und Sommers. Dabei wurde sicher auch übertrieben: Ältere Engländer erzählen entweder mit Achselzucken oder mit Grausen von den Schulmahlzeiten des Winterhalbjahres in den 40ern bis 60er Jahren, wo das tägliche Rhabarbermuss zwangsverzehrt werden musste.
Der Rhabarber heute!?
Seit ca. 10 Jahren spielt der Rhabarber auch im Sortiment von Lubera® eine wichtige Rolle: Er ist die frühe Frühlingsobstart par excellence (nochmals: obwohl er ein Gemüse ist), den schwellenden Knospen im 5l Topf, in dem wir die Rhabarber produzieren, den sich entwickelnden Trieben sind die Gartenfreunde fast schutzlos ausgeliefert - sie müssen einfach kaufen. Und der Rhabarber hat ja schon auch seine Gartenvorteile: Einmal an einem halbschattigen Ort mit fettem Boden, oder auch in der Nähe des Komposts gepflanzt, fristet er das ganze Jahr über ein unauffälliges Schattendasein, um zuverlässig jedes Frühjahr zur Hochform aufzulaufen. Mit dem Wiederauftauchen der dauertragenden Rhabarbersorten (z.B. Livingstone), die im Frühling noch früher starten und auch im Sommer zuverlässig treiben, wurde und wird dem Rhabarber wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil. Und auch wir bei Lubera® haben uns den neuen Rhabarberfragen gestellt:
- Wie könnte der Rhabarber zu einer Art Hosta mit Fruchtnutzen werden, einer Zierpflanze für schattige und halbschattige Standorte?
- Wären auch Rhabarber im Topf möglich, für Balkon und Terrasse, für den städtischen Nutz- und Genussgarten?
- Wie könnte der Zierwert des Rhabarbers vergrößert werden?
- Kann die Dauerträgereigenschaft noch verbessert werden? Ein Wachstum über die ganze Vegetationsperiode, von Februar bis Oktober, ohne Unterbruch durch die sommerliche Hitze?
Das Lubera® Rhabarberzüchtungsprogramm
Im Lubera® Rhabarberzüchtungsprogramm haben wir umfangreiche Rhabarberpopulationen hergestellt, einerseits aus frei abgeblühten interessanten Sorten, andererseits aber auch aus Kreuzungen von genetisch möglichst weit voneinander entfernten Rhabarbersorten. Nach der mehrjährigen Selektion des Sämlingsmaterials haben wir im letzten Oktober einen neuen Versuch (die 2. Stufe) gepflanzt, ein Rhabarberbeet, fast 500m lang, mit über 100 Selektionen.
Bild: Rhabarberzüchtung bei Lubera in Buchs: Das 500 m lange Beet mit der 2. Züchtungsstufe in Buchs
Die wichtigsten bisherigen Erfahrungen
Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich bin von den Rhabarber-Resultaten, von der schieren Diversität des Rhabarbers und von seinen pflanzlichen Möglichkeiten schlichtweg begeistert. Diese Neuauflage der Rhabarberzüchtung, die aktuell in Europa wohl einzigartig ist, bringt deutlich mehr neue Eigenschaften zum Vorschein, als wir erwarten konnten. Und es ist ja auch nicht verwunderlich: Die Suche nach dem richtigen Medizinal-Rhabarber, die in der frühen Neuzeit fast obsessiven Charakter annahm (jeder wollte das Monopol brechen und selber Rhabarber-Medizin herstellen) hat zu sehr vielfältigen Pflanzenimporten aus China geführt – und damit zu einer sehr vielfältigen genetischen Basis des heutigen Fruchtrhabarbers. Und die Tatsache, dass insgesamt doch nicht sehr intensiv gezüchtet wurde, lässt es als naheliegend erscheinen, dass noch sehr viel zu entdecken ist. Umgekehrt zeigen genetische Studien, dass viele bekannte klassische Rhabarbersorten eng verwandt sind. Die war in der Kreuzungsplanung zu berücksichtigen, bei der wir möglichst weit entfernte Eltern paarten.
Wir möchten natürlich unsere Sorteneinführungen nicht vorgreifen, die in 2-3 Jahren aus unserer Züchtungsarbeit folgen werden: Aber einige Rhabarbertypen, die unsere Sortimente bald schon bereichern werden, können wir hier kurz – im Sinne einer Vorschau – vorstellen.
Der Produktivitätsbooster
Ganz allgemein überrascht uns die Vitalität unserer neuen Rhabarber. Man stelle sich vor: Im Oktober 2019 wurden die Rhabarber geteilt und die neue Versuchspflanzung wurde angelegt. Jetzt, im Frühling und Sommer 2020 gibt die Pflanzung schon einen vollen und teilweise übergroßen Ertrag. Die ertragsstärksten Selektionen wie z.B. RR-19-35 oder RR-19-19 zählen über 60 bzw. 80 Stiele (notabene pro Pflanze), das Rhabarberrhizom hat bei diesen neuen Sorten innerhalb einer neuen Vegetationsperiode schon 10-12 neue Kronen, Teilrhizome gebildet.
Bild: RR-19-35: Superertragsrhabarber von oben
Bild: RR-19-35: Stängel, nichts als Stängel
Bild: RR-19-35: Die Seitenansicht dieser Neuzüchtung zeigt, dass auch Anfang August laufend neue Rhabarberstiele entstehen. Insgesamt zählen wir Anfang August bei dieser Selektionsnummer mehr als 60 Stängel pro Pflanze – und das im ersten Jahr nach der Neupflanzung im Oktober 2019.
Bei den Superertragsrhabarbern dieses Typs wird einem ja fast angst und bange, ob wir hier einen neuen invasiven Neophyten heranzüchten. Im Ernst: die nächsten 2 Jahre müssen wir hier vor allem beobachten, wie sich die Triebdicke entwickelt und ob sie mit dem riesigen Wachstum des Rhizoms Schritt halten kann. Aktuell messen sie bis zu 2.5cm Durchmesser, was durchaus akzeptabel ist. Dazu kommt eine sehr schöne und leuchtende Aussenfarbe. Innen bleibt diese Rhabarberselektion grün.
Der Dauerträger-Rhabarber
Natürlich stehen die Dauertragfähigkeiten ebenfalls im Fokus unserer Züchtungsbemühungen. Diese Eigenschaft ist mit Livingstone beim Rhabarber wieder aktuell geworden. Die ersten Dauerträgerrhabarber wurden allerdings schon im 19. Jahrhundert in Australien gezüchtet und angebaut und Luther Burbank führte die ersten Everbearing Rhubarbs um die Jahrhundertwende ein.
Ganz allgemein stellen wir fest, dass die neuen Züchtungen sehr gut regenerieren und auch nach Ernte und Rückschnitt fast allesamt gut nachwachsen. Wir haben letztes Jahr Anfang Juli und dieses Jahr Ende Juli je eine Pflanze pro Klon bis auf 3 kleine Blätter total abgeerntet; schon 1 Woche bis 10 Tage später bauen sich die Pflanzen auch in der Sommerhitze schnell wieder auf.
Bild: Je eine Rhabarberpflanze jeder Selektion wurde Ende Juli zurückgeschnitten, und baut jetzt innerhalb von nur 10 Tagen schnell wieder auf – trotz Sommerlicher Hitzeperiode
Vielleicht ist diese Vitalität auch teilweise der Nähe zum Sämling geschuldet (auch die letztjährigen Versuchspflanzen sind ja geteilte Sämlingspflanzen) Wir sind aber fast sicher, dass wir diese Eigenschaft dank der invitro Vermehrungsmethode beibehalten können. Will heißen: Insgesamt regeneriert die neue Rhabarbergeneration sehr viel besser nach Ernte und Rückschnitt, die Dauerträgerfunktion ist in der ganzen Population besser verankert. – Aber natürlich suchen wir jetzt Pflanzen, die die Dauerträgereigenschaft auf die Spitze treiben, die immer und überall und bis in den späten Herbst hinein neue Triebe bilden. Dazu haben wir ausgezählt, welche Rhabarberselektionen Anfang Oktober noch immer viele neue Triebe bilden. Als einer der Favoriten zeigt sich ein Booster-Rhabarber, der aktuell im Sommer pro Pflanze 80 Triebe bildet, und der auch im letzten Oktober noch voll von neuen zu entwickelnden Trieben war: RR-19-19.
Bild: RR-19-19: Die Obenaufsicht zeigt gut die langen Stängel, die an der Basis schön rot gefärbt sind. Gleichzeitig und trotz der Dichte der Stängel entstehen laufend neue Triebe.
Bild: RR-19-19: Wunderschön gleichmäßiger Pflanzenaufbau dieser Superbooster-Rhabarber
Bild: RR-19-19: geerntete Stiele des Superboosters
Bild: RR-19-19: Weil's so schön ist, nochmals ein Bild eines unserer produktivsten Rhabarber
Der Topfrhabarber
Auch der Rhabarberanbau findet nicht mehr nur im Garten statt. Oder eigentlich müsste man das treffender ganz anders formulieren: Der Rhabarberanbau findet schon seit 200 Jahren nicht nur im Garten statt: bei der Rhabarbertreiberei wurden ja die Rhizome ausgegraben, ins Triebgebäude gebracht und da forciert… Die moderne Topfkultur ist durchaus vergleichbar: Gib dem Rhabarber im Topf im Frühling etwas zusätzliche Wärme, und er wird schon im März und April die leckeren Stängel ausschießen lassen!
Für die Topfkultur braucht es aber kompaktere, stabilere Sorten, die nicht gleich brechen – und trotzdem einen verwertbaren Ertrag bilden. Letztlich fehlen Sorten in der Größe zwischen unserem zwergmäßigen Lilibarber® und den konventionellen Rhabarbersorten, in der Höhe 20-35cm.
Auch hier konnten wir diverse Zuchtnummern selektionieren, die jetzt weiter auf Stabilität, Ertrag und Qualität geprüft werden. Dabei muss der kompakte Wuchs keineswegs mit schwachem Wachstum einhergehen: Auch unsere neuen kompakten Selektionsnummern tragen zwischen 30 und 45 Stängeln (und das auch hier im ersten Jahr nach der Neupflanzung im Oktober 2019).
Bild: RR-19-209: kompakte, stabile, aber doch gut erntbare und verwertbare Stängel
Bild: RR-19-209
Bild: RR-19-209
Bild: RR-19-203: der kompakte Rhabarber in Obenaufsicht
Bild: RR-19-203: Trotz des kompakten Wuchses entstehen auch noch Anfang August frische neue Stiele und Blätter
Bild: RR-19-06
Bild: RR-19-06
Bild: RR-19-06
Bild: RR-19-06: dieser kompakte Rhabarber zeigt leicht Rosa gefärbtes Fruchtfleisch in den kompakt gewachsenen Stängeln
Rotfleischige Rhabarber
Echt rotfleischigere Rhabarber sind aber eine Seltenheit. Häufig wird von Himbeerrhabarbern oder sogar Erdbeerrhabarbern und Blutrhabarbern gesprochen, aber bei genauerer Hinsicht sind sie im Wesentlichen nur außen an den Stielen rot, innen ergibt sich mal eine zufällige leichte Ausfärbung, aber diese ist nicht zuverlässig und zeitlich eher auf die späte Ernteperiode beschränkt. Bislang der zuverlässigste rotfleischige Rhabarber ist unser Siruparber® ‘Canada Red’. In unserem neuen Sämlingsmaterial haben wir aber zusätzliche Zuchtnummern selektioniert, die ebenfalls zuverlässig rotes Fruchtfelsich ausbilden und dem Rhabarbermus und dem Rhabarbersirup zu einer phantastischen dunkelrosa bis leucht-roten Farbe verhelfen.
Bild: RR-19-67: an der Basis gut durchgefärbt
Bild: RR-19-67: auch diese rote Rhabarberselektion ist sehr produktiv
Bild: RR-19-67: die Stiele dieser Selektion sind auch ansprechend lang
Bild: RR-19-39: eine weitere rotfleischige Selektion
Bild: RR-19-39
Bild: RR-19-39: die roten Stängel machen Lust auf mehr...
Blütenrhabarber
Traditionell werden Rhabarber gegen Blüte selektioniert. Das heißt: Sorten und Selektionen, die zuverlässig im Frühjahr mehrere Blütenstängel bilden, werden nicht für den Anbau selektioniert, weil die Blütenbildung und Samenausreife ganz offensichtlich viel Kraft beansprucht – und auf Kosten des Stielertrags geht. Aufgrund unseres Fokus auf den Gartenanbau und allenfalls auf den Topfanbau, haben wir ganz bewusst auch Sorten selektioniert, die viel und zuverlässig Blüten bilden – und trotzdem in der Lage sind, einen zuverlässigen und großen Stielertrag zu bringen. Praktisch werden bei diesen Sorten die Blüten belassen bis sie abgeblüht sind; dann können sie entweder geschnitten und entfernt werden, oder sie kippen irgendwann von selber um und schaffen so mehr Platz für den Stielertrag. RR-19-126 ist so eine Selektion, die trotz schönen Blüten auch bis über 40 Stiele bilden kann.
Bild: RR-19-126: Die Stängel dieses Blütenrhabarbers sind tendenziell und vergleichsweise eher dünn, aber mit 2-3 cm gut zu verarbeiten
Bild: RR-19-126: grüner Stängel Nahansicht
Bilder: Rhabarberblüten
Die Zukunft des Rhabarbers – bei Lubera®
Sie haben es gelesen, und wir haben es mit den Bildern dokumentiert. Wir sehen die Zukunft des Rhabarbers ziemlich rosig. Diese komische Wurzelpflanze mit der fast welthistorischen Geschichte hat auch für die Zukunft einiges zu bieten: als Zier- und Nutzpflanze im Schatten oder Halbschatten, als Ertragsbooster im Gemüse- und Fruchtgarten, als Blütenstaude, die so manche Hosta vor Neid erblassen lässt und schließlich als nicht nur über viele Jahre sondern auch innerhalb des Jahres kontinuierlich aberntbare Dauerträgerpflanze. Natürlich dürfen wir aber den Tag nicht vor dem Abend loben – noch stehen 2-3 weitere Tests und Entwicklungsjahre bevor – mit den ersten Sorten aus dem Lubera® Rhabarberprogramm kann 2023/24 gerechnet werden.
PS: Gezüchtet wird bei Lubera® im Team. Ich danke Marion Seger, Moritz Köhle und Frederik Vollert für die gute und genaue Selektion und Kulturarbeit und für die Zusammenstellung der Daten.