Anders als man gemeinhin denkt, sind die meisten Pflanzen (zumindest in undomestiziertem Zustand) nicht selbstfruchtbar, können sich also nicht selber befruchten, sondern brauchen normalerweise einen Fremdbefruchter, eine andere Sorte der gleichen Art. Für Kulturpflanzen oder für Pflanzen, die Kulturpflanzen werden sollen, ist Selbstfruchtbarkeit ganz sicher eine wünschenswerte Eigenschaft. In diesem Artikel zeigt Markus Kobelt auf, wie die Lubera® Züchtung bei Ribes aureum Fruchtsorten und bei Lonicera caerulea, bei den Erstbeeren versucht, selbstfruchtbare Sorten zu erhalten – übrigens mit ganz konventionellen züchterischen Mitteln. Das einzige Wundermittel, das den Prozess erst ermöglicht ist….Zeit. Viel Zeit. Und damit erklären sich auch die vielen Tüten auf Pflanzen, die auf den Zuchtfeldern von Lubera im Frühling zu sehen sind…
Bild: Jüngere Lonicera-Selektionen auf dem Feld. Sie sind jetzt zum ersten Mal eingepackt worden, um nach selbstfruchtbaren Selektionen zu suchen. Der Vorgang wird 3 Jahre wiederholt, um sichere Ergebnisse zu erzielen.
Bild: Ribes aureum Selektionen auf dem Feld. Sie werden erst eingepackt, wenn die ersten Blütenanlagen sichtbar sind. Es muss sichergestellt sein, dass auf den eingepackten Trieben auch Blüten entstehen.
Warum sind Pflanzen im Normalfall eher nicht selbstfruchtbar?
Dass Pflanzen im Normalfall nicht selbstfruchtbar sind, scheint auf den ersten Blick kontraintuitiv. Selbstfruchtbarkeit wäre doch viel einfacher… Aber dieser Gedanke ist eben aus Menschensicht gedacht, und nicht aus Pflanzensicht. Eine Pflanze, die überleben will – und dies wenn möglich über 100 000e von Jahren, in denen sich die Rahmenbedingungen stark verändern können - braucht eine möglichst grosse Diversität, möglichst viele unterschiedliche Eigenschaften, die à la la longue das Überleben erleichtern. Die Chance, dass es einen passenden Zukunftsfit gibt, ist bei vielen Varianten einfach grösser. Wer viele Lose kauft, erhöht die Aussichten auf Gewinn…
Warum möchten wir Menschen, dass essbare Beerenpflanzen selbstfruchtbar sind?
Nun ja, wir möchten intuitiv mehr Ertrag. Wir werden tendenziell immer fruchtbarere Pflanzen bevorzugen, und dies wird in der Regel auch zu einem Selektionsdruck führen, der selbstfruchtbare Pflanzenindividuen bevorzugt. In vielen Fällen erhöht Selbstfruchtbarkeit nämlich die Fruchtbarkeit. Die Tomaten beispielsweise waren ursprünglich auch selbstunfruchtbar und erst die bewusste und unbewusste menschliche und tierische Selektion hat sie zu fast 100% selbstfruchtbar gemacht. Und wenn wir einmal in der modernen Landwirtschaft angekommen sind, ermöglicht eine möglichst gute Selbstfruchtbarkeit die Pflanzung von sortenreinen Blöcken (ohne Befruchter) und damit eine einfachere Ernte. Damit wird es auch im Hausgarten, bei Euch zu Hause, plötzlich möglich, eine einzelne Pflanze zu pflanzen, das heisst ihr müsst euch wie bei Brombeeren, Himbeeren, Johannisbeeren und bei den meisten Heidelbeeren gar nicht mehr um die Befruchtung kümmern.
Das Beispiel von Erstbeeren® (Lonicera caerulea) und Vierbeeren® (Ribes aureum)
Bei Erstbeeren (=Maibeeren=Honigbeeren=Lonicera caerulea) sowie bei Vierbeeren (=Goldjohannsibeeren=Ribes aureum) ist zwar die Domestikation zu Kulturpflanzen schon vor einigen Jahrzehnten begonnen worden, aber noch immer schleppen diese ‘orphan crops’, diese Waisenkinder der Kulturpflanzenentwicklung den Nachteil der fehlenden Selbstbefruchtung mit sich herum. Natürlich gibt es noch andere Domestikationshindernisse, die überwunden werden müssen (gleichmässigere Reife, Fruchtgrösse, mehr Zucker, problematische Vermehrbarkeit bei Ribes aureum), aber die fehlende Selbstfruchtbarkeit schränkt doch die Verwendung im Hausgarten und auch im Erwerbsanbau stark ein: Es muss halt immer zuerst das vermaledeite Problem der Fremdbefruchtung (mit Befruchtersorten) gelöst werden. Es ist nun die Aufgabe der Züchter, den evolutionären Prozess, der z.B. bei der Tomate 10 000te von Jahren gedauert hat, züchterisch abzukürzen und wenn möglich Sorten zu züchten, die selbstfruchtbar sind. Alles übrigens im Wissen, das sich die ‘Natur’ aus freien Stücken wohl anders entscheiden hätte und die Fremdbefruchtung vorziehen würde.
Die Lubera Züchtung: So versuchen wir, selbstfruchtbare Erstbeeren und selbstfruchtbare Vierbeeren zu erhalten
Das geschieht in 6 Schritten, die sich teilweise auch überschneiden. Für diese Übersicht und zur Vereinfachung stellen wir sie feinsäuberlich nacheinander dar.
- Tastversuche – Gibt es überhaupt selbstfruchtbare Individuen
Zuerst müssen wir mal wissen, anhand unserer Pflanzen, manchmal auch mit der Hilfe der Literatur, ob wir überhaupt eine Chance haben, abweichende selbstfruchtbare Individuen zu finden. Sind die Literaturrecherchen nicht eindeutig, werden 100 plus unterschiedliche Einzelpflanzen getestet; wenn wir darin 2-3 Selbstfruchtbare finden, so können wir(fast) sicher sein, dass es auch bei neuen Kreuzungen genügend Individuen geben wird, die selbstfruchtbar oder partiell selbstfruchtbar sind.
- Selektion von guten Züchtungssorten mit gärtnerisch und agronomisch interessanten Eigenschaften
Aber zunächst wollen wir ja auch das ganze Züchtungsniveau anheben; es macht kaum Sinn, die Selbstfruchtbarkeit bei minderwertigen Pflanzen festzustellen und dann auf so tiefem Niveau mit der Züchtung weiterzufahren. Also werden aus relativ grossen Populationen und Kreuzungen die besten Sortenkandidaten ausgelesen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei neben Qualität und Robustheit auf den Ertrag gelegt, da damit die Hoffnung besteht, alleinschon über das Selektionskriterium Ertrag mehr Selbstfruchtbarkeitskandidaten aus dem Teich der Sämlinge zu fischen. Wir erinnern uns: Selbstfruchtbare Sorten sind tendenziell fruchtbarer als Fremdbefruchter.
- Alle selektionierten Sorten werden auf Selbstfruchtbarkeit getestet (mindestens 3 Jahre, 3 möglichst eindeutige Resultate)
Dann beginnt die züchterische Pflichtarbeit der Selbstfruchtbarkeits-Tests. Dazu werden ganze Pflanzen oder Äste eingesackt und eingepackt, so dass sie von Befruchtungsinsekten (und damit von fremden Pollen) nicht erreicht werden können. Die Sorten und Selektionen, die dann doch noch innerhalb der Säcke Früchte ansetzen, müssen eigentlich selbstfruchtbar sein. Allenfalls könnten sie auch parthenokarp entstehen (also ohne Befruchtung). Auf diese Art und Weise haben wir sowohl bei der Vierbeere als auch bei der Erstbeere 10-15 Kandidaten für Selbstfruchtbarkeit gefunden.
Bild: Eingepackte Triebe von Lonicera Selektionen auf dem Feld. Hier wird getestet, ob eine Selektion selbstfruchtbar ist. Dies ist der Fall, falls die eingepackten Treibe Früchte ansetzen
Bild: Ein Blick ins Innere des Blütengefängnisses
- Erste selbstfruchtbare Sorten
Eventuell und mit etwas Glück können aus diesen Kandidaten bereits die ersten selbstfruchtbaren Sorten ausgelesen werden. Das entscheidet sich bei uns in den nächsten 2-3 Jahren.
- Umbau der gesamten Obstart auf Selbstfruchtbarkeit
Aber eigentlich möchten wir ja als Züchter noch weiter kommen. Wir wollen - wenn immer möglich - die Selbstunfruchtbarkeit ganz ausschalten, so dass wir in unserem Zuchtmaterial in einigen Jahren nur noch selbstfruchtbare Sorten haben werden. Dazu muss man wissen, dass die Eigenschaft der Selbstfruchtbarkeit in der Regel rezessiv ist, also versteckt; sie zeigt sich nicht als sichtbare Eigenschaft, wenn sie nur auf einem Chromosom präsent ist. Sie kommt erst zum Vorschein, wenn sie auf beiden Chromosomen vorhanden ist. Diese genetische Struktur erklärt sich ganz leicht aus der ursprünglich evolutionär vorteilhaften Rolle der Selbstunfruchtbarkeit (mehr Diversität!), also hat die Evolution keine dominante Selbstfruchtbarkeits-Eigenschaft zugelassen.
Wenn wir nun aber unsere neuen selbstfruchtbaren Selektionen miteinander kreuzen, so können wir erwarten, dass alle Nachkommen (oder doch fast alle) selbstfruchtbar sein werden. Um einen genetischen Engpass zu verhindern und um innerhalb der Selbstfruchtbarkeit möglichst viel Diversität an andere Eigenschaften zu ermöglichen, machen wir in diesem Stadium eben nicht einzelne Kreuzungen zwischen den selbstfruchtbaren Sorten, sondern mixen sie möglich frei untereinander, indem wir sie in einem geschlossenen Zelt von Hummeln befruchten lassen.
Bilder: Bereits gesicherte selbstfruchtbare Erstbeeren® werden in Gruppen ins insektensichere Zelt gestellt, wo Hummeln die gegenseitige Befruchtung übernehmen. Hier sollen Populationen entstehen, die vollständig selbstfruchtbar sind.
Aus diesen Populationen können dann wieder die besten Sorten (Geschmack, Grösse, Erntezeit, Aroma, Zucker, Pflückbarkeit) ausgelesen werden. Zwar wird man die potentiellen neuen Sorten schlussendlich ebenfalls auf Selbstfruchtbarkeit testen, aber man kann fast sicher damit rechnen, dass sie auch ohne Fremdbefruchtung zuverlässig Früchte ansetzen
- Selbstfruchtbarkeit wird zur züchterischen Selbstverständlichkeit, das gesamte Zuchtmaterial ist selbstfruchtbar
Es ist nun genügend Diversität in die neue Welt der selbstfruchtbaren Sorten (Lonicera caerulea, Ribes aureum) eingeführt worden, so dass so schnell kein genetischer Engpass, keine genetische Sackgasse mehr droht. Ab jetzt ist es möglich und sinnvoll, zur schnelleren Qualitätsentwicklung und zur schnelleren Promotion von bestimmten Eigenschaften auch gezielte Kreuzungen (innerhalb der selbstfruchtbaren Grossfamilie) zu machen. Wir sind endlich auf dem Züchtungsniveau von schon weiter entwickelten domestizierten Sorten angekommen.
Wo befinden wir aktuell in diesem Prozess?
Wir sind bei beiden Arten, Ribes aureum und Lonicera caerulea unterdessen auf Stufe 5 angekommen. Aktuell versuchen wir, die beiden Obstarten grundsätzlich und auf breiter Front selbstfruchtbar zu machen, indem wir interessante selbstfruchtbare Selektionen aus Stufe 3 und 4 frei untereinander kreuzen – wobei wir hier die harte Kreuzungsarbeit den Hummeln überlassen.
Bild: Hier sind die Blüten von Ribes aureum bereits sichtbar, jetzt müssen sie eingepackt oder ins Kreuzungszelt gestellt werden.
Bild: Hier sind bereits die Hummeln an der Arbeit
Wie lange dauert dieser gesamte Prozess, selbstfruchtbare Sorten von kaum domestizierten Obstarten zu entwickeln?
Jedenfalls würde man kaum damit beginnen, wenn man die untenstehende Kalkulation zu Beginn des Prozesses machen würde😉 Wer also Ähnliches vorhat, dem sei empfohlen, diesen letzten Abschnitt nicht mehr zu lesen…
- Tastversuche – 2-3 Jahre
- Herstellung von grossen Populationen, in der Regel auch aus möglichst vielen offen befruchteten guten Sorten oder Populationen, um möglichst viel Diversität zu erhalten. Daraus dann Selektionen der besten Sorten – 6-7 Jahre
- Testung der erhaltenen Selektionen auf Selbstfruchtbarkeit – 3 Jahre
- Allenfalls erste Sorten mit Selbstfruchtbarkeit – 3 Jahre
- Herstellung von genetisch möglichst diversen, aber 100% selbstfruchtbaren Sämlingspopulationen und wiederum Selektion der besten Sorten. Etablierung eines breiten und diversen Elternstamms mit selbstfruchtbaren Sorten – 6 Jahre
Also dauert der ganze Prozess mindesten 20 Jahre plus. Unser einziger Trost: Wir sind unterdessen schon im Jahr 14… Das schlimmste haben wir wohl hinter uns!