Was, schon wieder eine neue Sorte? Solche und ähnliche Bemerkungen hören wir nicht selten. Und sie sind auch nicht ganz unbegründet. So vermehren wir aktuell nicht weniger als 70 Himbeersorten. Die (zu) grosse Anzahl ist aber eher der Tatsache geschuldet, dass es uns nicht gelingt, alte Sorten einfach abzustellen, da es immer noch eine stabile Nachfrage dafür gibt. Auch diese Beobachtung spricht ja dafür, das Thema ‘neue Sorten’ etwas genauer anzuschauen.
Was gegen neue Sorten spricht?
Natürlich gibt es unzählige Gründe gegen neue Sorten:
- Man kennt die alten Sorten, damit auch ihre Vor- und Nachteile besser.
- Auch die eigenen Kunden (die Kunden unserer Kunden) haben sich daran gewöhnt.
- Jede neue Sorte muss auch neu verkauft, kommuniziert werden.
- Neue Sorten sind in der Regel ‘dank’ Lizenzanteil teurer
Was aus Marktsicht für neue Sorten spricht: Neuheit
Bild: Himbeer-Neuheit Schlaraffia® Naschmich®
Aus Marktsicht gibt es ganz einfach auch das Bedürfnis nach Bewegung, Veränderung. Auch die Kunden unserer Kunden möchten immer wieder einmal etwas Neues. Wir hören von vielen Jungpflanzen-Kunden, dass sie ohne Bewegung im Sortiment, ohne neue Sorten oder neue Angebotsbündelungen auch bei langjährigen Grosskunden Umsatz verlieren. Stabil oder wachsend kann nur ein Account sein, der laufend mit neuen Ideen unterfüttert wird. Grob vereinfacht kann man sagen: Unabhängig vom Inhaltlichen ist es die Dynamik des Markts, die nach Neuheit fragt (auch wenn wir diese manchmal hinterfragen…)
Wie schnell ändert sich die Sortenwelt?
Als Züchter habe ich naturgemäss einen weiten Blick nach vorne. Dieser kann auch mal in die falsche Richtung gehen, ich kann mich über die neuen gewünschten Fruchteigenschaften gerne und gut täuschen, dennoch ist Züchtung nur möglich, wenn sie immer wieder von Visionen geleitet wird. Umgekehrt ermöglichen mir knapp 30 Jahren Obst- und Beerenzüchtung auch einen Blick zurück, der mir sehr wohl zeigt, wie sehr sich Angebot und Nachfrage, aber damit auch die Sortenrealität gewandelt haben: Von Jahr zu Jahr gehen diese grossen Tendenzen verloren, aber über 30 Jahre werden sie ganz klar und deutlich. Hier nur einige solche Merkpunkte und Veränderungen:
- In vielen Bereichen sehen wir, wie südliche Pflanzen einerseits bei uns immer besser überleben, aber auch das Angebot immer professioneller und breiter wird: Zitruspflanzen, Feigen, Kaki, Guaven
Bild: Feige Gustissimo® Perretta®
- Schorfresistente Apfelsorten gab es vor 30 Jahren nur einige, heute bieten wir bei Lubera nur noch solche Apfeltorten an, ganz allgemein ist das Angebot an Obst für den Hausgarten gewachsen.
- Die Heidelbeere ist von einer Nischenprodukt zu einem Haupt-Umsatzträger geworden
- Schwarze Johannisbeeren sind heute in den besten Sorten (z.B. den Cassissima Sorten von Lubera) resistenter als Stachelbeeren und rote Johannisbeeren, behalten das Laub auch ohne Pflanzenschutz bis weit in den Herbst hinein.
Bild: großfrüchtige schwarze Johannisbeere Cassissima® Blackbells®
- Neue Himbeersorten sind viel besser, doppelt so gross und auch um bis zu 70/80% Ertragreicher als Autumn Bliss.
- Zucker ist viel wichtiger geworden, die Säuretoleranz der Konsumenten schwindet. Kein Wunder bei so viel Zuckerkonsum.
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Natürlich ist es schwierig, Veränderungen objektiv zu beurteilen, aber es gibt wohl doch einige gute Gründe, die meisten dieser Tendenzen als Fortschritt zu beschreiben. Wäre es wirklich wünschbar, alle alten Sorten wären in ihrer Marktbedeutung stabil geblieben?
Die olympische Züchtung neuer Sorten: Schneller, weiter, höher
Bild: sehr große Früchte der Primeberry® Malling Happy®
In der olympischen Züchtungsdisziplin schneller-weiter-höher ist vor allem die Erwerbsanbau-Züchtung vertreten, aber auch wir können das nicht gänzlich vernachlässigen. So nehmen auch wir Züchtungsfortschritte mit, wenn Früchte grösser, Erträge besser und sicherer und auch die Zeit von der Pflanzung bis zur ersten Ernte kürzer oder eben schneller wird. Gerade bei Beerensorten ist die Fruchtgrösse ein nicht zu unterschätzender Qualitätsfaktur: Bei grösseren Früchten verbessert sich das Verhältnis zwischen Samen und Fruchtfleisch, man hat mehr zu beissen, mehr Saft, mehr Frucht, letztlich mehr Geschmack und mehr Geschmackserlebnis. Bei den meisten Beerenarten ist dieser Grössenvorteil genau bis zu dem Zeitpunkt positiv zu werten, wo dann die Grösse nicht mehr für einen Biss reicht, wo die Frucht nur noch in Etappen in dem Mund kommt. Um ein Beispiel aus den Zitruspflanzen zu nehmen: Kumquat schmecken dann am besten, wenn man es wagt, sie ganz in den Mund zunehmen und zu beissen, dann wird die Mundhöhle mit Saft und Geschmack überflutet, die Geschmacksknospen wissen sich vor lauter Eindrücken kaum mehr zu wehren. Aber eben: die Kumquat-Frucht ist fast schon zu gross, um mit einem Biss gegessen zu werden, und ganz häufig beobachte ich, wie dann in zwei bis drei Bissen gegessen wird und das Geschmackserlebnis eben nur noch schulterzuckend zur Kenntnis genommen wird.
Langer Rede kurzer Sinn: Grössere Beerenfrüchte machen Sinn, solange sie ganz in den Mund geschoben werden können… Und darum ist es vor allem bei Beeren auch sinnvoll, grössere Früchte zu züchten. Auch die Hausgartenzüchtung muss sich damit beschäftigen, die objektiven quantitativen agronomischen Eigenschaften der Obst- und Beerensorten zu verbessern, auch wenn das nicht ihr Kernbereich ist. Zu diesen notwenigen agronomischen Fortschritten gehört es übrigens auch, die Produktionseigenschaften von Obst- und Beerensorten in der Pflanzenproduktion zu verbessern: Die grösste Frucht und auch der beste Geschmack nützen nichts, wenn eine Sorte nicht gut vermehrt und produziert werden kann.
Die Hausgartenzüchtung: einfachere, bessere, resistentere neue Sorten
Bild: gesunde Freilandtomaten-Selektion ohne Überdachung
Neben diesen quantitativen Zuchtzielen spielen in den Zuchtprogrammen von Lubera und Lubera Edibles vor allem qualitative Eigenschaften eine entscheidende Sorte: Beeren und Obstsorten, die besser und intensiver schmecken, deren Fruchtfleisch und Saft sich beim Beissen besser aufschliessen (neue Apfeltexturen); einfacher zu kultivierende Pflanzen, die bei gleichbleibendem Ertrag und stabiler Qualität einfacher im Garten angebaut werden können. Natürlich ist für diese neue Einfachheit häufig auch eine zusätzliche Krankheitsresistenz notwendig: die Mehltautoleranz bei Stachelbeeren, die Mehltauresistenz bei Cassis, die Kraut- und Braunfäule-Resistenz bei Tomaten…
Nutz und Zierwert in einer neuen Sorte vereint
Bild: rosa Blüte der Redlove®-Apfelsorte Calypso®
Die Kombination von Nutz- und Zierwert in einer Sorte ist ein weiterer Königsweg der Hausgartenzüchtung, auch und gerade in unseren eigenen Züchtungsprogrammen. Die Gärten werden kleiner: Wenn es uns da gelingt, neben besserem Geschmack und einfacherer Kultur auch noch einen Zierwert zu schaffen, so ist damit wie wirklicher Mehrwert für unsere Endkunden, auch für die Kunden unserer Kunden unserer Kunden gegeben. Genau diesen Mehrwert testen wir auch beim Erstverkauf neuerer Sorten auf Lubera.com: Wenn da die Nachfrage nach neuen Sorten steigt, wenn die Argumente ankommen, dann macht es auch Sinn, diese Sorten so schnell wie möglich als Jungpflanzen anzubieten.
Die sich verändernde Welt
Die bisherige Argumentation für neue Sorten, kann man etwa folgendermassen zusammenfassen: Es braucht neue Sorten
- Weil Neuheit an und für sich ein Wert ist
- Weil wir damit objektive quantitative und qualitative Verbesserungen erzielen und den Kunden zur Verfügung stellen
- Weil unsere Markpartner Veränderung wünschen und sich ihrerseits differenzieren wollen
- Weil auch die Pflanzenproduzenten selber einfachere Sorten wünschen, Sorten, die besser produziert werden können, die aufrechter wachsen, besser verzweigen.
Den Endkunden selber, den Konsumenten und Hobbygärtner haben wir noch zu wenig in den Fokus gerückt… Er möchte vor allem einfacher und lustvoller gärtnern. Er hat (subjektiv) zu wenig Zeit, er möchte sofort ernten, sofort die Früchte seiner Gärtnerarbeit geniessen. Und er ist vor allem Teil einer Umwelt, die sich verändert.
Es gibt also noch eine ganze andere Dimension bei neuen Sorten, die bisher nur ganz leise angeklungen ist: Eine sich verändernde Gesellschaft, andere Ausbildungen und Zeitbudgets; noch weiter ausgreifend , aber von entscheidender Bedeutung ist das sich verändernde Klima, eine verdichtete Umwelt, die immer weniger Freiräume lässt.
Dass diese Umwelt- und Gesellschaftsveränderungen auch einen Einfluss auf die Sorten und Pflanzenarten haben, lässt sich ganz leicht zeigen, wenn man nur wieder die zeitliche Dimension etwas erweitert:
- Der Niedergang der Birne: die Birne war die Königsfrucht an und für sich, solange man saftende und schmelzende Früchte nicht nur geniessen konnte, sondern auch geniessen musste, da der Zahnapparat für anderes nicht geeignet war. Umgekehrt ist der Apfel erst im 20. Jahrhundert dank der immer besser werdenden Zähne zur führenden Frischfrucht geworden.
- Die Etablierung südlicher Pflanzen, im Garten, aber auch als erfolgreiche Neophyten, nimmt weiter zu, muss auch bei sich ändernder Umwelt zunehmen.
- Grosse Baumformen finden kaum noch Platz, auch wir haben z.B. den Obsthalbstamm neu definiert als ein kleines Bäumchen auf einem etwas höheren Stamm, der gerade noch das Rasenmähen erlaubt. Warum: Weil es nicht nur in den Gärten immer weniger Platz gibt, sondern auch weil der Zeithorizont der gärtnernden Kunden immer mehr abnimmt. Was heute gepflanzt wird, sollte möglichst in diesem Jahr (oder allerspätestens im nächsten)fruchten, dann ist das Produktangebot für den modernen Kunden mit kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspanne geeignet…
Bild: kompaktwachsende Birne Pironi® Little Sweety®
Zum Schluss
Damit sind wir mit unseren Überlegungen am Schluss angekommen: Die Züchter dieser Welt und auch wir von Lubera Edibles züchten neue Sorten, damit die Pflanzen in eine sich verändernde Welt passen. Und klar, damit das am Ende auch funktioniert, braucht es eher einen Überschuss an neuen Sorten als einen Mangel…